Selbstermächtigung, Selbstorganisation und regionale Transformationen am Modell des Club of Rome Carnuntum
(2019 bis 2022)
Neben zwölf Wissenschaftler:innen (Universität für Bodenkultur Wien und Technische Universität Wien) waren Vertreter:innen vom Regionalentwicklungsvereins, des Club of Rome Carnuntums, von City Games Vienna und NÖ Regional sowie ca. 1.300 Bürger:innen aus 30 Gemeinden der Region Römerland Carnuntum in die transdisziplinäre Forschung eingebunden. Ziel war es, handlungsrelevantes transformatives Wissen für die nachhaltige Regionalentwicklung zu erarbeiten und neue Formate der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Bevölkerung zu erproben: Zukunftsrat, Regions-Schmieden (= Real-Labor), Serious Game.
Das zwischen den Metropolen Wien und Bratislava liegende Römerland Carnuntum zählt zu den wachstumsstärksten Regionen Österreichs. Angesichts multipler Krisen (z.B. Klima-, Biodiversitätskrise, Pandemie, Probleme in globalen Lieferketten, soziale Ungleichheit) stellt sich die Frage, wie sich die Region bis 2040 nachhaltig entwickeln und die mannigfaltigen, teilweise divergierenden wirtschaftlichen, sozialen und ökologischer Interessen der regionalen Akteur:innen selbstorganisiert abstimmen kann.
Der im Rahmen des Projektes etablierte Zukunftsrat umfasste neben ‚traditionellen‘ Akteur:innen aus Lokalpolitik, Interessenverbänden, Unternehmen, der Wissenschaft oder zivilgesellschaftlichen Organisationen – wie bei Bürgerräten üblich – auch zufällig ausgewählte Personen aus der Region. Aufbauend auf einer wissenschaftsgeleiteten Systemanalyse entlang von fünf Handlungsfeldern (Menschen und Soziales; Landschaft und Siedlung; Bildung und Werte; Klima, Energie und Mobilität; (Land-)Wirtschaft und Tourismus) wurden partizipativ Szenarien entwickelt, über die der Zukunftsrat und die Bevölkerung der Region abstimmten und dessen Ergebnis für das Projektteam bindend war. Die drei Zukunftsbilder für das Römerland Carnuntum 2040 waren:
- High-tech im intakten Lebensraum: Mit Innovationen und Start-ups der grünen und disruptiven Spitzentechnologie erreicht das Römerland 2040 als erste zentraleuropäische Region die Ziele des Paris-Abkommens. Das (bau-)kulturelle Erbes und der Naturraum wurden nachhaltig in Wert gesetzt.
- Wohlstand durch Vernetzung: Im Regionsparlament arbeiten Bürger:innen, Wirtschaft und Lokalpolitik an richtungsweisenden Entscheidungen für einen ressourcenschonenden Ausbau von Infrastrukturen zur besseren internationalen Vernetzung. Zahlreiche naturnahe Grünoasen v.a. in Privatgärten, auf Dach- und Fassadenflächen bestimmen die Lebensqualität.
- Lebensqualität durch Nähe: Nähe und soziales Miteinander sind die Schlüssel zur Lebensqualität im Römerland Carnuntum 2040 – im Fokus liegen hochwertige regionale Produkte, kurze Wege und das Schließen von Kreisläufen. Das Wachstum konzentriert sich auf Ortskerne, die als lebendige Räume attraktiv für Menschen jeden Alters sind.
Bei einer Online-Abstimmung ging das Zukunftsbild ‚Lebensqualität durch Nähe‘ eindeutig als Sieger hervor. Diese gab – ergänzt um besonders hoch bewertete Elemente der anderen Zukunftsbilder – den Orientierungsrahmen für die Weiterarbeit zur Vision im Zukunftsrat. Die Vision ‚Römerland Carnuntum 2040 – Gemeinsam. Regional. Innovativ‘ zeichnete das Bild einer starken und selbstgesteuerten Region, die auf regionale Identität und Zusammenarbeit setzt. Lebensqualität durch Nähe, soziales Miteinander in allen Lebensbereichen, konzentrierte Entwicklung und abgestimmtes Wachstum, regionale Zusammenarbeit sowie zukunftsorientierte, auf regionale Produkte fokussierte und ressourcenschonende Entwicklung sind wesentliche Visionselemente.
Zur spielerischen Erprobung der regionalen Transformation haben regionale Vertreter:innen unterstützt durch CityGamesVienna und das Projektteam ein kombiniertes Brettspiel-Adventure Game speziell für die Region entwickelt, das inzwischen von zahlreichen Schüler:innen und regionalen Akteur:innen gespielt wurde. Zudem wurde transformative Veränderung in zwei Regions-Schmieden und 10 Arbeitskreisen praktisch angegangen:
- In der Regions-Schmiede 1 „Regionaler Planungs- und Gestaltungsbeirat“ wurden die Grundlagen und Anforderungen eines Regionalen Planungs- und Gestaltungsbeirats erarbeitet, der im Zuge eines Pilotprojekt-Testlaufs an einem konkreten Wohnbauprojekt in Hainburg praktisch erprobt wurde. Daraus wurden fachliche Empfehlungen für die Gemeinde ausgearbeitet und diskutiert.
- In der Regions-Schmiede 2 „Zukunftsrat 23+“ formulierten Bürger:innen – aufbauend auf internationalen Erfolgsmodellen und eigenen Erfahrungen mit Zukunftsrat und neuen Formen der Jugendbeteiligung– Optionen zur längerfristigen Verankerung der regionalen Beteiligung über die Projektlaufzeit hinaus. Mehrere dieser Empfehlungen wurden bereits umgesetzt. So kommen die neue Obfrau des Regionalentwicklungsvereins, neue Mitglieder des Projektauswahlgremiums sowie eine Mehrzahl der 24 neuen Mitglieder in der Vollversammlung aus dem im Rahmen des Projekts eingerichteten Zukunftsrats. In der LEADER-Strategie 2023-2027 (LES) wurde zudem eine Förderschiene für Beteiligungsprozesse mit höchst dotierter Förderquote und Bonuspunkte für Beteiligung zur Erhöhung der Förderquote eingerichtet. Die fünf Handlungsfelder der Systemanalyse bildeten den Rahmen für die Arbeit engagierter Bürger:innen aus der Region, die sich näher mit der Umsetzung der Vision in konkrete Projektideen beschäftigten. Von ihnen, wie auch von Bürger:innen aus 10 selbst-organisierten Arbeitskreisen, wurden 22 Projektideen entwickelt, welche in einem Zukunftsrat bezüglich ihres Beitrags zur Vision bewertet wurden. Die Bürger:innen präsentierten sodann die vielversprechendsten Projektideen der Vollversammlung des Regionalentwicklungsvereins. So konnten die Transformationsideen der Bürger:innen als Leitprojekte in der LEADER Strategie 2023-2027 (LES) verankert werden, um im Sinne eines „perspektivischen Inkrementalismus“ zur Erreichung der Vision beizutragen.
Der transdisziplinäre Prozess wurde begleitend erforscht und die entwickelten Methoden, Tools und Erkenntnisse in 19 wissenschaftlichen Publikationen und Tagungsbeiträgen in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht. Das Projekt erlangte auch außerhalb der Wissenschaft viel Aufmerksamkeit (z.B. 12 NÖN Beiträge, mehrere Preise). Der originäre Beitrag des Projekts ist vor allem in der Entwicklung und praktischen Erprobung neuer transdisziplinärer Formate der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Bevölkerung zu sehen. Die breite Einbindung der Bevölkerung und das Entwickeln gemeinsamer Perspektiven für eine seitens der regionalen Bevölkerung als attraktiv wahrgenommenen Zukunft mag manche Kanten der Vision abgeschliffen und das Transformationspotential der anfangs seitens einzelner Bürger:innen mutiger und transformativer formulierten Projektideen beschnitten haben. Der tatsächliche Beitrag des transdisziplinären Projekts zur Bewältigung multipler Krisen und für eine nachhaltige Entwicklung in der Region ist aus heutiger Sicht nicht seriös abzuschätzen.
Das Projektteam bedankt sich bei der Wissenschaftsabteilung des Landes Niederösterreich für die Förderung des transdisziplinären Forschungsvorhabens, das versucht hat, das Wissen von Universitäten und regionalen Akteur:innen auf Augenhöhe zu integrieren und partizipative Formen der Wissensproduktion zu entwickeln. Die Finanzierung solcher Vorhaben an der Schnittstelle zwischen Forschung und Regionalentwicklung ist nach wie vor schwierig, wenn inzwischen auch ÖAW, FWF, WWTF, Klimafonds oder EU-Förderprogramme transdisziplinäre Forschungsprogramme erproben.